Der Umgang der jüngeren Generationen mit Medien hat sich in den letzten 15 Jahren tiefgreifend verändert. Die heutige Gesellschaft ist viel weniger eine Buch- und Zeitungskultur als noch vor wenigen Jahrzehnten. Im Internet bilden sich vielmehr neue virtuelle Gedächtnisräume, in denen jede Person sich nicht nur ihre eigene Geschichte erschaffen kann, sondern auch ganze Gemeinschaften von virtuellen Mitstreitern (er)finden kann, die ihre Geschichte teilen. Diese Vervielfältigung der Geschichtsbilder im Internet hat dazu beigetragen, dass sich das einstige (angeblich) kollektive Erinnern individualisiert hat – so meinen zumindest konservative Beobachter.
Gleichzeitig hat sich der Markt für populäre und kommerzielle Geschichtsangebote sehr stark ausgeweitet und pluralisiert. Von Medienprofis aufbereitete visuelle Präsentationen von Geschichte finden sich in TV-Dokumentationen und im Kino, in populären Geschichtsmagazinen oder PC/Online-Spielen. Diese ästhetisch oft sehr ansprechenden Medienprodukte sind so professionell gestaltet, dass man sich ihren Suggestion oft nur schwer entziehen kann. Problematisch daran ist weniger die Ästhetik, sondern vielmehr die sich dahinter verbergenden geschlossenen Geschichtsbilder.
Auch für angehende Geschichtslehrer_innen ist es oft schwierig, solche Geschichten und ihre medialen Bedingungen zu durchschauen und diese Geschichtserzählungen zu dekonstruieren. Viele Geschichtsdidaktiker_innen fordern deshalb seit langem eine verstärkte Ausbildung der geschichtskulturellen Kompetenz. Damit ist gemeint, dass sich der Geschichtsunterricht inhaltlich viel stärker mit der Präsenz von Geschichte und Geschichtsinszenierungen im öffentlichen Raum befassen muss, um eine historische Orientierung überhaupt vermitteln zu können.
Die geschichtskulturelle Kompetenz ist eng verbunden mit profunden Kenntnissen über die Entstehungsbedingungen von Medien und ihrer Möglichkeiten und Grenzen, kurzum mit einer vertieften Medienkompetenz. In der Geschichtsdidaktik wird diese meist auf die Fähigkeit zur Dekonstruktion von Geschichtsnarrativen reduziert, nur selten wird ein handlungsorientierter und konstruktiver Umgang mit Medien umgesetzt. Das an der PH Freiburg gestartete und jetzt an der Universität Tübingen fortgeführte Lehr-Lern-Projekt setzt genau hier an und will dezidiert eine historische Medienkompetenz fördern und zwar durch eine zwar theoretisch fundierte, aber primär handlungsorientierte Ausbildung an verschiedenen Medien.
Indem sie selbst Medien produzieren, erwerben die Studierenden eine besondere Fähigkeit zur kritischen Beurteilung medialer Darstellung. Denn nun müssen die Studierenden selbst entscheiden, was wichtig ist und was gekürzt werden kann, vor allem aber mit welchen gestalterischen und ästhetischen Mitteln die eigene Erzählung umgesetzt werden soll und kann, damit das gewünschte Bild beim Rezipienten entsteht. So lernen sie mögliche Alternativen bei der medialen Umsetzung einer Narration kennen, deren Wirkungen vergleichend beurteilen und können deshalb die Arbeit anderer adäquat reflektieren und bewerten.
Die Geschichtswissenschaft hat bislang keine eigene Methodologie zum Umgang mit Sachquellen entwickelt, so dass sie immer wieder auf die Expertise von Archäologie und Ethnologie zurückgreifen muss, um historische Objekte zum Sprechen zu bringen. Indem Studierende intensiv die Geschichte einzelner Objekte und ihrer Kontexte, die historischen Biographien dieser Artefakte erforschen, bilden sie eine zusätzliche Methodenkompetenz aus, die bislang an keiner deutschsprachigen Hochschule in der Geschichtswissenschaft oder Geschichtsdidaktik systematisch gelehrt wird. Hierin liegt ein weiteres Alleinstellungsmerkmal unseres Projekts.
Viele dieser Objektgeschichten sind bewusst in einer rein auditiven Form als Radio-Feature erzählt worden und nicht als Kurzfilm. Anregung hierfür war die bekannte Radioserie der BBC „A History of the World in 100 Objects“ unter der Federführung von Neill MacGregor, dem damaligen Direktor des British Museum in London. Der Verzicht auf Bilder birgt dabei eine besondere Herausforderung für die Studierenden, weil sie zunächst mit rein sprachlichen Mitteln eine möglichst konkrete Anschauung der Objekte vermitteln müssen, ohne sich auf visuelle Hilfsmittel stützen zu können. Es kommt darauf an, „Bilder im Kopf“ des Publikums zu erzeugen, und schon deshalb setzen sie sich viel intensiver mit der sprachlichen Gestalt von Geschichtspräsentationen auseinander als in herkömmlichen Seminararbeiten.
Ein weiterer Nebeneffekt der recherchierten Objektbiographien, den die Teilnehmer_innen auch später noch unaufgefordert erwähnten (ähnlich auch von der Auseinandersetzung mit historischen Orten), war eine veränderte Wahrnehmung ihrer unmittelbaren Umgebung, die sie nun viel stärker als eine historisch gewordene erkannten und auf historische Spuren befragten. Sie berichteten auch von Flohmarktbesuchen und Neuentdeckungen von alten, ungenutzten Alltagsgegenständen in Kellern und auf Speichern. Bei Unterrichtsversuchen in den studienbegleitenden Praktika und im Referendariat bezogen sie nun Sachquellen als Einstieg oder Lerngegenstand dezidiert ein.
Ab Sommer 2018 soll außerdem ein historischer Blog weitere Anregungen zur Wahrnehmung der historischen Dimension des Alltags geben: www.historischer-augenblick.de
Grundlage dieser Kurzfilme und Radio-Features ist wie bei jeder anderen wissenschaftlichen Arbeit im Studium auch eine intensive Recherche und Dokumentation. Von anderen, herkömmlichen Radio-Features etwa aus dem journalistischen Bereich unterscheiden sich die hier präsentierten durch eine dezidiert wissenschaftsbasierte Vorgehensweise (systematisierend und kategorial stringent) beim Verfassen des Drehbuch/Skripts im Vorfeld der Produktion (hier mussten alle Aussagen sorgfältig belegt und Entscheidungen für eine bestimmte Wertung begründet werden).
Allerdings sind die wissenschaftlichen Gattungen selbst für ein historisch interessiertes Publikum oft wenig verständlich und nur in den seltensten Fällen attraktiv. Es kommt also nicht nur auf die Recherche am, sondern auch auf eine Übersetzungsleistung, bei der die Studierenden die wissenschaftlich gewonnenen und dokumentierten Ergebnisse in eine neue, attraktiv und spannend verpackte Form bringen sollen, die interessierte Laien anzusprechen und zu faszinieren vermag.
Indem eigene Medienprodukte erstellt werden, erwerben die Studierenden auch ein vertieftes Verständnis für die durch den Entstehungsprozess bedingten Verengungen und Begrenzungen von Medienerzählungen. Da die Studierenden in Eigenarbeit solche Produkte entwickeln und erstellen, setzen sie sich auf eine andere und viel motivierendere Art und Weise mit den Themen auseinander, als dies etwa bei Referaten und Hausarbeiten oft der Fall ist. Die Lernerfolge kommen auch nur dem Unterrichtsfach Geschichte zu Gute: Denn hier wird ein besonderes Augenmerk auf eine attraktive und das Interesse fördernde Darstellung gelegt, ohne die fachlich-wissenschaftliche Fundierung zu vernachlässigen. Durch den Zwang zur didaktischen Reduktion komplexer historischer Sachverhalte und zum Finden einer spannenden Fragestellung, eines Spannungsbogens, werden genau jene Fähigkeiten geschult, mit denen angehende Geschichtslehrkräfte in Ausbildung und im Berufsleben immer wieder zu kämpfen haben.
Der dabei neu entwickelten audiovisuellen Mediengattung haben wir einen neuen Namen gegeben und sprechen von einem Dokurama. Die erste Hälfte des Neologismus „Doku-“ verweist auf die der Produktion vorausgehende wissenschaftliche Recherche und Dokumentation, das Suffix „-rama“ hingegen auf ein breites Spektrum an Kontexten und betont die Ähnlichkeit zu Begriffen wie Panorama oder Historama. Erst Monate später sind wir auf jemanden gestoßen, der den Begriff schon vor uns erfunden hatte. Eine Gleichsetzung oder Konkurrenz zum Markennamen der gleichnamigen und hochwertige TV-Dokumentationen produzierenden Filmfirma von Christian Stiefenhofer ist nicht beabsichtigt (www.dokurama.com). – Vielen Dank an Herrn Stiefenhofer, dass wir diesen Namen in unserem pädagogischen Kontext verwenden dürfen!
Inzwischen hat die erste Generation von Studierenden, die an diesen Seminaren teilgenommen hat, bereits damit begonnen, die Arbeitsweisen und Methoden wiederum im Geschichtsunterricht anzuwenden. Die Ergebnisse von Schülerinnen und Schülern der 9. Klasse einer Realschule zeigen, wie sich eine erfolgreiche Projektarbeit zur lokalen Geschichte gestalten lässt (unter der Leitung von Tugba Türk und Julian Bletscher).
Geschichtslehrende, die selbst mit ihren Schüler_innen solche Projekte durchführen und Medienprodukte erstellen möchten, können von Dipl.-Päd. Matthias Baumann Unterstützung erhalten.